top of page

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie

  • Paula Abigail
  • 21. Sept. 2017
  • 6 Min. Lesezeit

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie | erschienen am 23.August 2017 im Diogenes Verlag | 656 Seiten

Seit Erscheinung Ende August wurde wohl kaum ein Buch so intensiv besprochen wie Klaus Cäsar Zehrers Das Genie.

Anfangs Monat hatte ich eine Lesekrise und dieses Buch war ein Glücksgriff! Zehrer erzählt das Leben des William James Sidis und fragt: Ist Intelligenz angeboren?

Sind wir alle als Genies geboren und können unser Potential durch die richtige Erziehung entfalten?

Die Sidis-Erziehungsmethode erlangte anfangs des 20.Jahrhunderts weit über die Fachkreise hinaus Bekanntheit und löste kontroverse Diskussionen aus.

William James Sidis wurde 1898 als Sohn jüdisch-ukrainischer Einwanderer in New York geboren und galt als das Experiment seines Vaters Boris Sidis, mit dem dieser beweisen wollte, dass man durch Frühförderung jedes Kind zum Genie erziehen kann. Boris Sidis selbst war Autodidakt, machte später einen Abschluss an der Havard Universität, war Psychologe, Psychiater und Psychopathologe und sprach rund zwei Dutzen Sprachen.

Das war das Besondere an Boris: Bei ihm lernte man zu denken. Bei anderen Lehrern lernte man nur Stoff. (S.72)

Erzählt wird bei weitem nicht nur die Geschichte des Wunderkindes, sehr intensiv liegt der Fokus auf dem Vater, dessen Vorgeschichte und seine Haltung zur Psychologie eine gewichtige Rolle im Leben des William James Sidis spielen.

Boris Sidis kam am 5.Oktober 1886 als neunzehnjähriger Bursche aus der Ukraine nach New York - er würde diesen Tag fortan wie seinen Geburtstag feiern - und hatte viele Ideen, Träume und das Gefühl der unbändigen Freiheit, das die USA in diesen Tagen versprach. In seiner Heimat sass Sidis bereits mit siebzehn Jahren in Haft, weil er sich für die Bildung der Bauern eingesetzt und diese unterrichtet hatte. Nach seiner Ankunft in New York führte Boris Sidis fünf Jahre lang ein prekäres Leben, schummelte sich irgendwie duch, arbeitete ein paar Tage in einer Firma, um sie nach Lohnauszahlung wieder zu verlassen und sich dem zu widmen, was ihm wirklich am Herzen lag: dem Unterrichten. Er legte bei seinen Schülern viel Wert darauf, dass sie sich nicht zufrieden gaben mit einer Lösung, sondern nachfragten, mehr wissen wollten, dass sie das logische Denken erlernten und selbst Lösungen finden konnten. Eine seiner Schülerinnen war dabei besonders ehrgeizig: Sarah Mandelbaum, die er 1894 heiratete.

Als Sarah 1898 ihren Sohn gebar - benannt nach dem Psychologen William James, ein Vorbild und Freund Boris' -, begann der frischgebackene Vater sofort mit der Umsetzung seiner neuentwickelten Sidis-Erziehungsmethode, die auf Frühförderung aufbaut. Beim Wickeln wurden Billy - wie er als Kind genannt wurde - Karten mit geometrischen Formen in unterschiedlichen Farben gezeigt; ein rotes Dreieck, ein gelber Kreis... Bald wurden diese ausgetauscht, um engstirniges oder vorurteilhaftes Denken zu verhindern. Seine Eltern sprachen mit ihm deutsch, englisch, russisch, ukrainisch und französisch und erreichen damit, dass der Säugling bereits mit sechs Monaten sein erstes Wort und mit acht Monaten seinen ersten Satz spricht. Im Alter von zwei Jahren legt Billy Wörter mit Bauklötzchen und liest die New York Times, mit drei Jahren besitzt er bereits Fähigkeiten auf die ein zehnjähriger stolz sein könnte.

"Doch, genau so. Billy ist ganz normal, glaub mir." --- "Normal..."

"Was ist denn jetzt schon wieder? Freust du dich nicht?"

"Doch, schon... natürlich... Es ist bloss... Eben darüber wollte ich mit dir sprechen. Über Normalität.

Ich will nicht, dass William ein normales Kind wird."

"Sondern?"

"Er soll etwas Besseres werden." (S.156 / Gespräch zwischen Sarah und Boris am Abend als Billy geboren wurde)

Als Billy eingeschult wird, schickt man ihn direkt in die 3.Klasse, wo er einen herben Rückschlag erleben muss. Er wird gehänselt und Lexikon genannt, weil er alles weiss und gar die Lehrpersonen verbessert und ergänzt, allerdings ist das nicht das Problem. Denn plötzlich ist die Rede von Dividieren und Multiplizieren, Billy fängt sich sogar eine ungenügende Note. Dies quält den kleinen Jungen so sehr, dass er fünf Wochen krank zuhause liegt und seine Kräfte erst wieder zurückzukehren scheinen, als sein Vater mit ihm anhand von Pillen das Dividieren und Multiplizieren beibringt. Billy kehrt wieder an die Schule zurück. Sieben Monate nach seiner Einschulung, besucht der Siebenjährige bereits die 7.Klasse. Als er sich auch dort langweilt, wird er endgültig aus der Schule genommen und verbringt seine Tage nun an einem Kindertisch neben dem Schreibtisch seines Vaters, wo sie beide an ihren Büchern schreiben. Da Billy nun Zeit hat, setzt er sich an sein erstes Buch über Kalender. Als dieses beendet ist, beschliesst er eine Enzyklopädie zu verfassen und schreibt weitere Bücher zu den Themen Universum, Grammatik in der englischen Sprache, der menschliche Körper, Entstehungs- und Gründungsgeschichte der USA.

Zur gleichen Zeit möchte Boris einmal mehr seinen Sohn testen und legt diesem eine Aufnahmeprüfung für's Medizinstudium vor, die dreiviertel der Erwachsenen nicht bestehen. Für Billy natürlich kein Problem - mit sieben Jahren würde er problemlos für's Medizinstudium aufgenommen werden, wenig später besteht er die Aufnahmeprüfung für's MIT mit 100 Punkten. Als Billy im Alter von acht Jahren die Highschool besucht, setzt seine Mutter einen wohlgemeinten Artikel in der Zeitung auf. In diesem ist die Rede von einem Wunderkind - und plötzlich beginnt sich alle Welt für ihn zu interessieren. Billy fühlt sich ab einem gewissen Zeitpunkt von der Presse verfolgt, unwohl und ungerecht behandelt und weigert sich weiterhin in die Schule (=Öffentlichkeit) zu gehen. Dies führt dazu, dass er mit acht Jahren als jüngster Highschoolabsolvent - acht Jahre vor seinen Altersgenossen! - mit Zeugnis von der Schule abgeht.

Kurz darauf wird William - wie er sich fortan nennt - an der Havard Universität angenommen und belegt Kurse in Astronomie, Philosophie, Altphilologie und Französisch. Einen Platz findet er nicht, denn er ist ein kleiner Junge unter heranwachsenden Männern, die nicht annähernd Williams Ansichten teilen.

Zugleich muss Boris in Zeiten der aufstrebenden Psychoanalyse durch Sigmund Freud von sich zu sprechen machen - sein erster Schritt war die Eröffnung des ersten Sanatoriums, der zweite Schritt soll ein Vortrag seines Sohnes sein, um die Effektivität seiner Sidis-Erziehungsmethode unter Beweis zu stellen. So kommt es, dass William mit zehn Jahren einen Vortrag über die Vierte Dimension vor Harvard- und weit gereisten Professoren hält. 1914 ist er der jüngste Bachelor in Harvards Geschichte - zu beachten ist, dass er dies schon ein Jahr zuvor hätte sein können, allerdings die Altersfrist von sechzehn Jahren abwarten musste. Die Idee aber, die in diesem Jahr des Abwartens in William heranwuchs, hatte es in sich. Mit fünfzehn Jahren schreibt William sich einen Lebensplan und einen weiteren zur Optimierung der Gesellschaft. Sein Lebensplan baut auf 154 Regeln auf, die ihm in jeder Lebenslage zu Orientierung verhelfen sollen. Und zum ersten Mal macht er sich dabei auch Gedanken über sich selbst. Es ist der 16.August 1912 und ab heute ist er ein Mann.

Seltsam, er hatte sich schon mit so vielem beschäftigt, aber nie mit sich selbst und seiner Zukunft. Boris und Sarah hatten ihn nie dazu ermuntert, für sie war er immer nur das Produkt ihrer Erziehungsmethode gewesen. [...] Wer wollte er sein? (S.342)

Während des 1.Weltkrieges arbeitet William als Assistent am MIT. Als er erfährt, dass er Berechnungen anstellt, um den Bau eines Sonargerätes, das im Krieg eingesetzt werden soll, zu ermöglichen, kündigt er und beschliesst, sein Wissen fortan nicht mehr zu teilen. Er hat Angst, dass jede Idee, die er von nun an äussern würde, für etwas Böses benutzt werden könnte. Er glaubt sich unschädlich machen zu müssen und riskiert dafür sogar, von einer Strassenbahn überfahren zu werden. Als dieses Vorhaben glücklicherweise nicht klappt, bemerkt er, dass er auch gar nicht sterben möchte, nur will er seine Intelligenz nie mehr der Öffentlichkeit preisgeben.

William James Sidis erlebt darauf chaotische Jahre. Er verbringt einige Monate im Zuchthaus, verliert während der Wirtschaftskrise sein gesamtes Erspartes, wird immer wieder von Universitäten und Instituten angefragt, arbeitet aber am liebsten am Comptometer und geht einfachen Hilfsarbeiten in der Rechnungsabteilung nach. Er lernt, eine - leider unerreichbare - Frau zu lieben, schreibt wieder erste Bücher zu seiner Weltraumtheorie und Umsteigetickets amerikanischer Strassenbahnen. Nachdem er turbulente Kinder- und Jugendjahre hatte, zog er sich zunehmends zurück und starb 1944 in seiner Wahlheimat Boston.

Klaus Cäsar Zehrer erzählt die Lebensgeschichte so detailgetreu, dass ich ihm hierfür meinen Respekt aussprechen möchte.

Obwohl ich kaum zu Büchern greife, die mehr als 400 Seiten umfassen, bin ich nicht vor den 650 Seiten zurückgeschreckt und schnell waren an einem Nachmittag 200 Seiten gelesen - mit einer ruhigen und doch sehr fesselnden Sprachen führt uns Zehrer durch die Stationen der beider Leben von Vater und Sohn.

Auch die Themen, die in diesem Roman aufgriffen werden, sind aktueller denn je. Der Dollar/das Geld wird von den beiden als Krankheitserreger und Freiheitsberauber angesehen - wer Geld hat, hat Macht. Wer Geld hat, hat die Möglichkeit. Wirft man heute einen Blick auf - bestes Beispiel - das Bildungswesen, wird schnell klar, dass sich so viel nicht geändert hat. Nicht nur das Thema Bildung spielt in diesem Roman eine wichtige Rolle, auch die Entwicklung des jungen William zum Pazifisten, der 1.Weltkrieg und Rebellion.

Es ist schwierig, dieses Buch in wenige Worte zu fassen (deshalb wurde dieser Beitrag auch so lang)...

Ein Leben auf 650 Seiten, umrahmt von 154 Regeln - das perfekte Leben des William James Sidis.

Für mich eines der beeindruckendsten Bücher, das ich je gelesen habe.

Comments


bottom of page