In Ellbogen schildert die in Karlsruhe geborene Autorin Fatma Aydemir wie Protagonistin Hazal die Flucht ergreift vor einer Gesellschaft, die ihr immer wieder die kalte Schulter zeigt und sie deutlich spüren lässt: Du bist kein Teil von uns. Aydemir überlässt der Teenagerin mit ihrer Gossensprache das Wort, was den Roman umso authentischer und beeindruckender macht, weil man wirklich glaubt, mit Hazal am Tisch zu sitzen und ihrer Stimme zu lauschen. Einer Stimme, die einmal zu oft unterdrückt wurde.
Scham ist nämlich viel beschissener als Angst. Denn wenn man sich schämt, dann hat man sogar Angst davor, sich zu fürchten. (S.10)
Hazal ist noch nicht ganz achtzehn; sie ist jung, lebt in Berlin, sucht das Leben - sie ist Türkin.
Der türkische Name bedeutet so viel wie Herbstlaub, das auf den Boden fällt und ebenso unaufhaltsam wie jenes Laub, gerät Hazals Leben auf die schiefe Bahn.
Kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag wird Hazal beim Diebstahl im Drogeriemarkt erwischt. Bereits ab diesem Moment ist Hazals Wut geschürt und es wird immer schlimmer. Nach langem Einreden auf die Mutter darf Hazal an ihrem wichtigsten Geburtstag gemeinsam mit ihren Freundinnen Elma, Gül und Ebru auswärts übernachten; dass sie danach noch in den Club gehen - zumindest das Dreiergespann Hazal, Elma und die betrunkene Gül -, davon war keine Rede. Doch in ebendiesen Club kommen sie gar nie rein.
"Solange man nur ehrlich zu sich selbst ist, ist alles andere okay", hat Tante Semra heute gesagt, aber was heisst das schon? Wer ist dieses man? Und wer war das vorgestern im Hinterzimmer des Drogeriemarkts? Das war keine Rolle. Ich habe nicht das weinende türkische Mädchen gespielt, das Angst vor seinen Eltern hat, vor der Abschiebung, vor sich selbst. Dieses Mädchen, das bin ich. (S.120)
Nach diesem Vorfall sind die drei Freundinnen enttäuscht, vor allem aber wütend, und fühlen sich abermals ausgegrenzt, geraten sich sogar in die Haare. Elma wirft Hazal vor, dass sie nicht loyal sei und Elma in einer brenzligen Situation genauso sitzenlassen, ja sogar verraten würde, wie sie das mit einem gemeinsamen Freund - und Grasdealer des Vertrauens - gemacht hat. Nie im Leben könnte Hazal sich vorstellen, ihre Freundin zurückzulassen, doch eine kurze Begegnung auf dem Nachhauseweg ändert alles schlagartig. Thorsten - ein junger deutscher Student - spricht sie an, wird dann schnell ziemlich unverschämt und die drei jungen Frauen gehen auf ihn los, filmen es gar mit der Handykamera, bis es passiert: Hazal versetzt ihrem Gegenüber einen Stoss, so fest, dass er stürzt - und auf dem Gleis liegen bleibt in einem roten See , wie Hazal erzählt. Alles, an das sie denken können, ist jetzt eines: Rennen. Wegrennen.
Für Hazal endet das aber nicht in den eigenen vier Wänden. Ihre Reise führt sie bis nach Istanbul zu ihrem Freund Mehmet, den sie bisher nur aus dem Internet kennt. Mehmet selbst ist aus Deutschland abgeschoben worden und wohnt seit einigen Jahren nun in Istanbul und arbeitet dort fast rund um die Uhr in der Autowerkstatt, abends daheim setzt er sich dann mit seinem Glas Milch vor den Computer und spielt Onlinepoker, um dann später zu Gangsterfilmen wie Scarface einzuschlafen. Eigentlich hatte doch alles ganz gut angefangen; er hat ihr ein Platz im Schrank leergeräumt, zugehört. Doch er wird immer aphatischer und undurchdringlicher. Hazal unterdess hat sich mit Halil - Mehmets Mitbewohner - und dessen Freundin Gözde bekannt gemacht, um nicht zu sagen angefreundet. An einem Nachmittag als Hazal alleine zuhause ist, wird die Wohnung von der türkischen Einheit gestürmt, die auf der Suche nach Halil sind - anscheinend soll er ins Gefängnis für eine Unterschrift.
In ihrer Verzweiflung ruft sie Tante Semra an, die einzige in der Familie, die immer für sie da war und auf die sie zählen kann. Als Tante Semra anreist und versucht, Hazal zu überzeugen, wieder zurück nach Deutschland zu kommen und sich zu stellen, weiss Hazal: Das ist nicht, was sie will. Das kann sie nicht. Und nun ist es nicht nur ein Wegrennen, nun ist es offiziell: Flucht.
Und wer weiss, vielleicht sind wir ja alle so, vielleicht tun wir alle dasselbe, uns im Kreis drehen, immer wieder dieselben Runden, bis uns die Kraft ausgeht [...] und wir nur noch lachen können über die Angst, die uns unser Leben lang so viel Zeit gekostet hat. (S.270)
Im Vorwort schreibt Jana Hensel (Literaturkritikerin), dass man später von Fatma Aydemir sagen wird, man habe auf diese Autorin gewartet, man habe diese Stimme gebraucht. Diese Stimme hat nämlich bisher gefehlt. Was uns mit diesem Roman in die Hände gelegt wird? Oder auch meine Meinung zum Buch? - Ein Meisterwerk.
Schon lange hat mich ein Buch nicht mehr so zutiefst aufgewühlt, wütend und enttäuscht gemacht oder mich geängstigt vor der momentanen Situation mit dem Fremdenhass wie es Fatma Aydemir mit Ellbogen geschafft hat.
Wichtig und auch ausschlaggebend für dieses Buch ist, dass Aydemir die politische Situation und die Unterdrückung des eigenen Volkes durch Präsident Erdoğan anspricht, und das Buch mit der Julinacht (15./16.) 2016 des Putschversuchs in der Türkei enden lässt.
Um noch einmal Jana Hensel zu zitieren:
Aber vielleicht brauchen wir ja sie.
Um, ja, um die Welt, in der wir leben, zu verstehen.
Um zu dieser Gegenwart, die porös und unübersichtlich
und oft auch unverständlich ist, nicht den Kontakt zu verlieren.
Lesen Sie also dieses Buch -
um Ihretwillen!
Ellbogen erschien im Frühjahr 20167 im Hanser Verlag. 272 Seiten, für ca. CHF 28.- Die Bilder in diesem Beitrag habe ich der Homepage vom Verlag www.hanser-literaturverlage.de entnommen.